Zwischen der Streuung von Elektronen und Röntgenstrahlen an Atomen besteht bekanntlich eine enge Verwandtschaft: In die Berechnung der elastischen (kohärenten) Streuung geht derselbe Streufaktor ƒ, in die der unelastischen (inkohärenten) dieselbe Streufunktion S ein. Für die Röntgenstreuung hat sich die Berechnung von ƒ auf S aus dem Thomas-Fermi-Modell in den meisten Fällen als ausreichend erwiesen. Daß das Thomas-Fermi-Modell für kleine Streuwinkel die Werte von ƒ und S nicht ganz richtig wiedergibt, führt nämlich nur zu relativ geringen Fehlern für den Röntgenstreuquerschnitt. Völlig anders liegen in dieser Beziehung aber die Verhältnisse bei der Elektronenstreuung. Da der differentielle Streuquerschnitt für Elektronenstreuung im Gegensatz zur Röntgenstreuung den Faktor [4 π λ-1 sin (ϑ/2)]-4 enthält, kommt es hier entscheidend auf die genaue Kenntnis von ƒ und S für kleine Streuwinkel ϑ an. Wegen des schnellen Abfallens des differentiellen Elektronen-Streuquerschnitts mit wachsendem Streuwinkel ist dagegen hier die genaue Kenntnis von ƒ und S für größere Streuwinkel weniger wichtig. Da bei der Berechnung des Streuquerschnitts aus der Elektronendichteverteilung im Atom das Verhalten von ƒ und S für kleine Streuwinkel vor allem vom Verhalten der Dichteverteilung der Atomelektronen für große Kernabstände bestimmt wird, ist bei der Elektronenstreuung das Wentzelsche Atommodell, dessen Dichteverteilung für große Kernabstände exponentiell abfällt, dem nach Thomas-Fermi vorzuziehen. Der Wentzelsche Atomradius ist dabei so zu wählen, daß das Verhalten von ƒ und S für kleine Streuwinkel richtig wiedergegeben wird. Die so gewonnenen Formeln für Einfachstreuung werden zur Berechnung der Gesamtquerschnitte, der Aufhellungsdicken und vor allem der Mehrfachstreuung nach dem Verfahren von Bothe und Molière benutzt und für Kohlenstoff, Chrom und Gold numerisch ausgewertet. Die theoretischen Streuverteilungen werden mit Experimenten von Bibermanu. Mitarbb. einerseits und von Leisegang andererseits verglichen. Die Diskrepanzen zwischen den Meßergebnissen von Biberman und der auf dem Thomas-Fermi-Modell beruhenden alten Theorie werden erklärt. Die Übereinstimmung mit unseren theoretischen Kurven ist bedeutend besser. Bezüglich der Meßergebnisse von Leisegang bedeutet unsere Theorie keinen wesentlichen Fortschritt, da Leisegang mit einem um zwei Zehnerpotenzen breiteren Primärstrahl arbeitet als Biberman u. Mitarbb., so daß das von uns besonders untersuchte Verhalten für kleinste Winkel im Primärstrahl untergeht. Die Streuverteilung in kleinste Winkel ist wichtig für die elektronenoptische Abbildung, da jede Berechnung der Intensitätsverteilung eines Bildpunktes im Endbild die Kenntnis der Streuverteilung des entsprechenden Objektpunktes zur Voraussetzung hat.